Mit einer E-Mail aus München Anfang März 2017 begann eine lange Reise. Ich erfuhr, dass Horst Kettner, Leni Riefenstahls Lebensgefährte, verstorben war, „ohne Vorwarnung – ein plötzlicher Herztod.“ Riefenstahls Haushälterin und Vertraute hatte den 74jährigen am 11. Dezember 2016 leblos in seinem Bett gefunden. Das Haus der Regisseurin, die 2003 im Alter von 101 Jahren gestorben war, war versiegelt worden und sollte zum Verkauf angeboten werden.
In der großzügigen Villa befand sich aber noch Riefenstahls gesamter Nachlass. Sie hatte ihn der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin vermacht: Relikte ihres langen Lebens und gleichzeitig wichtige Spuren ihres Wirkens in den dunkelsten Jahren deutscher Geschichte. Verpackt in 700 Kisten. Eine unüberschaubare Menge an Zeitzeugnissen über eine weltberühmte Filmemacherin und Zeit ihres Lebens höchst umstrittene Persönlichkeit im Nachkriegsdeutschland.
Meine Beschäftigung mit Leni Riefenstahl hatte schon viel früher begonnen. 2002 führte ich für einen arte-Film ein Interview mit der Hundertjährigen in eben diesem Haus in Pöcking. Es war das letzte große Interview, das die Regisseurin vor ihrem Tod gab. Ich verließ das Haus in Pöcking damals mit deutlich mehr Fragen als neuen Erkenntnissen. Journalistenschüler/innen erzähle ich seitdem vom „Riefenstahl-Prinzip“, weil es mir bei dieser Begegnung zum ersten Mal bewusst wurde: Eine Interviewerin kann merken, wenn das Gegenüber einem glatt ins Gesicht lügt. Sehr viel schwieriger oder gar unmöglich ist es, hinter die Fassade einer Lüge zu blicken, die sich die Betreffende selbst bereits so lange erzählt hat, dass sie sie schon längst für die Wahrheit hält.
Riefenstahl kam nicht einfach zum Gespräch. Sie „empfing“ mein Kamerateam und mich in ihrem Haus. Wir warteten im Wohnzimmer auf die Regisseurin, umgeben von afrikanischen Skulpturen, europäischen Gemälden und privaten Fotografien. Nach einiger Zeit kam Riefenstahl aus dem oberen Stockwerk. Sie schritt die Treppe hinunter, blieb in der Mitte stehen, lächelte. Dann erst nahm sie die letzten Stufen. Sie tat, was sie immer getan hatte: sich als Star zu inszenieren, egal, auf welcher Bühne. Selbst hier, in ihren eigenen vier Wänden.
Es gibt unter Journalistenkollegen das geflügelte Wort von der „Schallplatte“, die jemand auflegt - also die immer gleiche, gut einstudierte, wieder und wieder erzählte Geschichte, erkennbar im Bemühen, wirkliche Antworten und weitere Fragen zu umschiffen.
Ihre „Schallplatte“ hatte Leni Riefenstahl nicht nur bei mir abgespielt. Gerade rund um ihren hundertsten Geburtstag war der Blick nach Jahrzehnten scharfer Auseinandersetzungen mit ihr milder geworden, sie wurde sogar hofiert und bewundert. Die Filmforschung wollte „das Konfliktpaar Kunst und Faschismus entkoppeln“, um sich ungehindert mit ihrem Werk und ihrer Ästhetik beschäftigen zu können. Jodie Foster, Rammstein und viele andere näherten sich der Künstlerin, ohne sich allzu lange mit ihrer politischen und historischen Verstrickung aufhalten zu wollen. „Sie war die beste Regisseurin, die jemals lebte. Um das zu erkennen, muss man nur ihre Olympia-Filme ansehen.“ Zu diesem Superlativ griff Quentin Tarantino im Interview mit dem „Spiegel“.
Riefenstahl hatte sich bis zum Ende ihres langen Lebens die Deutungshoheit über ihre Biografie erstritten.
War es möglich, dass sich in den 700 Kisten Belege für eine andere Wahrheit finden ließen? Der Gedanke ließ mich nicht los.
Es gelang mir, mit der Stiftung Preußischer Kulturbesitz eine Vereinbarung zu treffen: wir, die Vincent Productions, würden eine erste gründliche Erfassung des Nachlasses vornehmen und im Gegenzug das Material zu einem Dokumentarfilm verarbeiten können.
Der zweite, essenziell wichtige Schritt gelang danach: Wir konnten für dieses Projekt Andres Veiel gewinnen. Ein Glücksfall. Nicht zuletzt, weil Andres mit „Beuys“ gerade bewiesen hatte, wie meisterhaft er eine unüberschaubare Materialfülle nicht nur intellektuell fassen und entziffern, sondern daraus auch einen künstlerisch anspruchsvollen Film machen konnte.
Mit seiner Hilfe stellten wir ein Team aus Archivarinnen und Rechercheurinnen zusammen, das in vielen Monaten beinahe jede Seite, jedes Bild, jeden Schnipsel Film in die Hände nahm, katalogisierte, entschlüsselte. Eine Mammutaufgabe, gerade unter erschwerten Bedingungen der Corona-Einschränkungen – einige Monate lang war uns der Zugang zur Staatsbibliothek gar nicht möglich, danach auch nur sehr eingeschränkt.
Vier Jahre war das Team mit Sichtung und Bestandsaufnahme des riesigen Nachlasses beschäftigt. Was wir fanden, bestärkte uns in unserem Vorhaben, daraus einen Film entstehen zu lassen: trotz der erwart- und sichtbaren Spuren sorgfältiger Säuberungen entdeckten wir zahlreiche Belege für Riefenstahls bewusste Manipulation ihrer Biografie. Darüber hinaus, und das schien uns noch bedeutsamer, machten es die neuen Dokumente des Nachlasses nun auch möglich, die Entwicklung ihrer umstrittenen Bildsprache in den Kontext ihres Lebenslaufs und ihrer Reflektion des politischen Zeitgeschehens einzubetten und miteinander in Bezug zu bringen.
Mein persönlicher Blick auf Leni Riefenstahl hat sich in diesen Jahren der intensiven Beschäftigung mit ihrem Nachlass noch einmal verändert. Das Bild einer über alle Maßen ehrgeizigen, vor allem opportunistisch motivierten Künstlerin, die ihr Talent in den Dienst einer jeden Macht gestellt hätte, die ihr nur ausreichend Mittel und Möglichkeiten geben würde, ließ sich so nicht aufrechterhalten. Vielmehr trat mir eine durch und durch von der nationalsozialistischen Idee überzeugte „Aktivistin“ entgegen, die bis zum letzten Atemzug nicht von ihren alten Idealen lassen konnte. Riefenstahl empfand, so lese ich sie heute, das Ende des Krieges auch als eine persönliche Niederlage. Es war nicht nur der jähe Abbruch ihres kometenhaften Erfolgs, den sie betrauerte. Vielmehr sah sie keinen Sinn mehr in der Ausübung einer Kunst, die nicht zugleich der Verherrlichung jener Ideologie diente, an die sie bis zu ihrem Lebensende glaubte.
So erklärt sich auch, warum sie sich bis zuletzt einer inneren und äußeren Läuterung verweigerte und sich darüber hinaus auch in ihren späten Jahren mit Menschen umgab, die im wahrsten Sinne des Wortes „gleich gesinnt“ waren. Im Nachlass finden sich zahlreiche Spuren, die dies belegen: auf einer Seite ihres Kalenders die scheinbar gedankenlos hingekritzelten Worte „wählen NPD“; in einem Briefwechsel mit einem langjährigen Weggefährten das offen ausgetauschte, ungebrochene Bedauern über das Ende der guten, nationalsozialistischen Zeit; Dankesworte eines bekannten Holocaust-Leugners. Vor allem aber der Austausch mit Freunden und Bewunderern in vielen Telefonaten, die Riefenstahl in großer Zahl aufgezeichnet hatte. Besonders bedrückend anzuhören sind die Tonbänder, auf denen Riefenstahl nach ihrem Auftritt in der WDR-Sendung “Je später der Abend” gefeiert wird.
Warum ist die Auseinandersetzung mit Werk und Leben Riefenstahls gerade heute wieder so wichtig?
Weil sie in eine Zeit fällt, in der nicht nur faschistische Muster wieder gegenwärtig, gar salonfähig geworden sind. Es begegnen uns auch alltäglich Propaganda, Verzerrung, „fake news“. Krieg und Totalitarismus in unmittelbarer Nachbarschaft bedrohen auch uns. Schmerzlich wird uns vor Augen geführt, wie vulnerabel unsere Demokratien sind, welche wichtige Rolle dabei Verführung und Zersetzung durch autokratisches Denken spielen. Viele moderne „Riefenstahls“ sind darin verwickelt.
Gerade in diesem kritischen Moment verlassen uns die letzten Zeitzeugen, die den jüngeren die Geschichte erzählen könnten, wie ein ganzes Volk einem verbrecherischen Regime und seinen so harmlos wirkenden Idealen von Kraft und Schönheit verfiel. Und welche Rolle dabei die Propagandisten des Regimes spielten.
Davon handelt „Riefenstahl“. Leni Riefenstahls hundertjährige Lebens- und Wirkungsgeschichte ist ein Schlüssel zum Verständnis der Mechanismen von Manipulation, wie sie uns gerade wieder begegnen. Das macht die Reise in die Tiefen ihres Nachlasses nicht nur zu einer wichtigen kulturgeschichtlichen Aufgabe.
Ihr Werk zu dechiffrieren heißt: eine Ursünde der Filmpropaganda offen zu legen, um sie im Heute wiedererkennen zu können.